Ausmisten als Therapie oder: Minimalismus in Krisenzeiten.

Inspiriert von der Doku “Minimalism” von Matt D’Avella, Ryan Nicodemus und Joshua Fields Milburn und der Lektüre des Buches L’art de la simplicité von Dominique Loreau (hier geht’s zum englischen Review) habe ich mich in den letzten Wochen in einem kleinen Auf-, Aus- und Umräumwahn befunden, der wieder mal durch alle Räume und Regale fegt und mich von allem ablenkt, was mir gerade nicht gut tut. Ausmisten als Therapie oder akuter Psychohygieneminimalismus eben.

Und weil das vielleicht auch andere ganz gut kennen, beschäftigen wir uns doch heute mal damit: Räumen für den inneren (Welt)Frieden.

Fotocollage von einem Kleiderschrank und Buecherregal mit Pflanzen und Dekosachen, bei denen Ausmisten als Therapie nützlich sein könnte
So viel Kram – da geht noch was! 🙂

Wer sorget, der räumet

Im Sommer 2016 sind der Held meines Herzens und ich in eine gemeinsame Wohnung gezogen und damit hat mein Ausräum- und Minimalismusabenteuer seinen Anfang genommen. Ich war zwar nie grundsätzlich eine Frau des Vielen, jedoch aber ein eingefleischtes Nachkriegsenkelkind, das den großelterlichen Leitspruch “Na, das heben wir mal besser auf, das könnte man irgendwann nochmal gut brauchen” praktisch verinnerlicht hatte. Davon loszukommen dauert an – immer noch.

In den letzten drei, vier Jahren habe ich aber nicht nur praktische Ausräumerfahrung gewonnen, sondern mich auf dem Gebiet auch theoretisch weitergebildet. Meine Leseberichte hier auf dieser Seite bezeugen diesen teils holprigen Weg. Dank verschiedener Lektüre durfte ich nicht nur erkennen, dass weniger mehr ist, wenn es um ADHS und Angststörungen geht (unter anderem), sondern auch, dass ausmisten und rumräumen kathartisch und beruhigend auf Geist und Seele wirkt und frische Energie nicht nur in die Räumlichkeiten bringt. Mein Go-To-Beruhigungsmittel bei psychischen Verstimmungen aller Art ist also gerne mal eine Runde durch die Regale und Kästen räumen. Das lenkt ab, hebt die Stimmung und Großeltern sei Dank habe ich immer noch ausreichend “Sicherheitshalber-Aufgehobenes” für ein paar Jährchen Therapieräumen. Kann ich als Strategie nur empfehlen, unabhängig von diverser Verwandtschaft und Grundproblematik.

Ich möchte nicht.

Corona und die damit verbundene Panik bzw. Unsicherheit habe ich bis dato tatsächlich recht stabil umschifft, für irgendwas muss jahrelange Therapieerfahrung ja schließlich auch gut sein. Was mir mehr zu schaffen macht, sind die nun folgenden allmählichen Lockerungen, die mich zum einen persönlich (Social Anxiety lässt grüßen) und zum anderen ganz allgemein (wie gefährlich ist es denn nun tatsächlich gerade?) dezent überfordern. Und in diesem Sinne auch verunsichern. Ich sehe mich beruflich mit Situationen konfrontiert, die mich nicht nur unrund, sondern achteckig machen, und frage mich, wie ich damit am besten umgehen soll. Was mich wiederum zu der Frage führt, was ich mir denn nun eigentlich langfristig wünsche. Eine Frage, die ich mir selten und ungern stelle, da ich selten plane und schon gar nicht langfristig. Wäre aber manchmal vielleicht gar nicht so verkehrt.

Langer Rede kurzer Sinn: Ich räume derzeit mal wieder auf Hochtouren. Mit kleinen zeitlichen Pausen, ein wenig konfus und querbeet ganz Anti-Kondo und manchmal auch mit Zwischenetappen im Keller, aber: ich räume. Hilft auch nach wie vor bombig. So finde ich neben Arbeit, Dissertation, Leben, Lesen und Räumen kaum mehr Zeit, weiterhin regelmäßig Nachrichten zu lesen und mir sinnlos Sorgen zu machen. Ich bin abgelenkt und kann mich so leichter mit meiner derzeitigen Situation arrangieren (was vielleicht gar nicht so sinnvoll ist, aber gut Ding braucht ja bekanntlich auch mal die ein oder andere Weile). Trotzdem mache ich etwas sinnvolles und bringe Ordnung und Struktur in meine kleine Welt, den überschaubaren Bereich, den ich tatsächlich kontrollieren kann.

Wie Dominique Loreau in ihrem Buch schreibt:

  When we create an ordered environment, we order our inner selves, too. Every drawer full of clutter emptied, every cupboard tidied, every productive effort of organisation and simplification reaffirms our sense of control over our own lives.

Umräumen und ausmisten als Therapie. Genau darum geht es manchmal einfach. Sich das Gefühl zu erhalten, die Dinge des Lebens im Griff zu haben, selbst wenn wir instinktiv wissen, dass es im Großen und Ganzen gerade nicht so ist. Die Sicherheit, dass wir trotzdem etwas zu einer stabilen und sicheren Lebenssituation beitragen – und sei es nur durch einen ausgeräumten Kleiderschrank oder ein geordnetes Badezimmer. Natürlich ist uns allen klar, dass wir damit oft nur kompensieren, wo wir gerade nicht agieren können. Aber manchmal braucht es auch einfach diese symbolische Handlung. Manchmal reicht das denn auch schon.

Drum prüfe, was du nicht mehr möchtest …

So kathartisch und erleichternd die Ausräumerfahrung auch sein mag, so knifflig kann es trotzdem sein, im Eifer des  Gefechts mehr zu entsorgen, als einem einige Wochen später vielleicht lieb ist. Gerade das Ausmisten als Therapie in Krisenzeiten – ob Pandemie oder persönliche Krisen – kann oft besondere Ausmaße annehmen und in eine übereifrige Richtung abkippen. Ich habe bis jetzt zwar nur weniges weitergegeben, was ich im Nachhinein vielleicht doch lieber noch ein, zwei Räumrunden lang behalten hätte, aber das einige wenige reicht mir schon.

Deshalb bin ich mittlerweile dazu übergegangen, in besonders krisenhaften Momenten, wenn ich mir tatsächlich nicht sicher bin, was mit einem bestimmten Teil denn nun passieren soll, selbiges erst mal im Keller zwischenzuparken. Da ist es dann zwar aus den Augen, aus dem Sinn, aber sollte es mir doch wieder einfallen, ist es trotzdem noch da.

Diese Vorgehensweise ist Declutter- und Räumprofis natürlich bestens bekannt. Zwischen 30 Tagen und drei Monaten wird so ziemlich alles empfohlen, um Klamotte, Dekozeugs und ähnliches in eine Kiste zu packen und wegzuräumen, nur um dann nach Ablauf der Zeit zu prüfen, ob die fehlenden Teile überhaupt vermisst wurden. Eine gute Idee, die ich auch schon angewandt habe und nicht zuletzt für emotional vorbelastete Erinnerungsstücke oder ähnliches sehr praktisch finde. Manchmal braucht es einfach einen Zwischenschritt, bevor es zum endgültigen Abschied kommt. Oder eben auch zur Erkenntnis, dass besagtes Teil doch wichtiger ist, als ursprünglich gedacht, und dementsprechend auch besser behandelt/getragen/platziert wird.

Wenn es also bei so manchen Teilen einfach nicht klar werden will, was damit passieren soll, dann vielleicht doch einfach mal für einige Zeit ab in den Keller oder auf den Dachboden damit. Das kann Klarheit bringen. Und im Zweifelsfall neue Betätigungsfelder für zukünftiges Therapieräumen, falls die eigentlich bloß zwischengelagerten Dinge einfach vergessen werden und sich das Problemfeld so schlicht vom Wohnbereich in den Keller oder den Dachboden verlagert. Das ergibt dann fast schon verschärfte Möglichkeiten für räumende Ablenkungen …

Ausmisten reinigt also nicht nur Räumlichkeiten, sondern tut auch der Psyche gut – keine neue Erkenntnis. Aber manchmal ist es auch einfach wichtig, sich altbekanntes ins Gedächtnis zu rufen. So ein bisschen Therapieräumen kann manchmal einfach kleine Berge versetzen.

Und im Zweifelsfall reicht das doch schon, oder? 🙂

Passt auf euch auf & bleibt gesund!