Minimalismus macht das Leben leichter – oder?

Ich weiß nicht, wie es bei euch so aussieht, aber in meiner kleinen Bubble ist Minimalismus Queen – und das schon seit mehr als drei Jahren. Angefangen mit ein bisschen Pinterest-Inspiration und ersten Buchrecherchen kam mein Einstieg dann mit Lina Jachmanns Einfach leben, ein wunderschönes Buch voller Anregungen für Verkleinerungen das Alltags in allen möglichen Formen. Von da an gab’s für mich erstmal kein zurück; gebeutelt von Stagnation im akademischen Schaffen (selbstverschuldet, Motivationsloch in Kontinentalgröße) und bei beruflichen Veränderungen (nicht komplett selbstverschuldet, Leben eben) war mein Wunsch nach innerer Ordnung groß. Und da diese bekanntermaßen schwerer zu finden ist, lag das Schaffen äußerer Ordnung nahe. 

Minimalismus essen Angst und Kopfchaos auf

Für Menschen mit ADHS und Angststörungen kann äußere Ordnung helfen, innerlich zur Ruhe zu kommen. Wobei der Konjunktiv hier wohl eher übergangen und durch ein beherztes “hilft” ersetzt werden darf. Zumindest laut meiner englischsprachigen Literatur zum Thema. Was mit einem Umzug begann, hat sich über die Jahre zu therapeutischem Räumen gewandelt, das noch dazu voll im Trend lag (liegt?). Und in einigen Bereichen bin ich mittlerweile (etwas) ruhiger, entspannter und glücklicher mit meinen freien Flächen. 

Etwa im meinem Arbeitszimmer. Anfangs hole ich Tee, Kaffee, Wasser und räume alles, was ich für die anstehende Aufgabe benötig, raus. Dann arbeite ich, und am Ende räume ich alles wieder weg. An einen fixen Platz – damit ich es auch ohne Probleme wiederfinde. Klingt unglaublich einfach, ist es auch, und doch macht es einen großen Unterschied. Gerade wer so wie ich an mehreren Projekten oder Jobs arbeitet, kann eine klare Trennung gut gebrauchen. Sonst geht’s drunter und drüber – nicht nur im Kopf.

Einfach anziehen

Und auch bei der Klamottenwahl ist weniger in meinem Fall definitiv mehr. Zumindest teilweise. Schon vor einiger Zeit habe ich meine Farbpalette endgültig auf einige wenige Töne – Weiß, normales Schwarz, fröhliches Schwarz, Fuck-Off-Schwarz, Hipster-Schwarz und Jeansblau – beschränkt und fahre damit wunderbar. Zugegeben, das war nicht die größte Herausforderung, ich bin generell ganz gerne ein wenig unsichtbar. Aber seit ich mich bewusster mit meiner Farbwahl beschäftige und mit entsprechend größerer Umsicht einkaufe, macht sich das nochmehr bezahlt – in vielerlei Hinsicht. Praktisch alles kann kombiniert werden und meine Accessoires (also Taschen, Rucksäcke, Schuhe) passen ebenso beliebig in diesen Reigen der vereinfachten Kleidsamkeit. Ich brauche zwar immer noch ab und an ein wenig, um was Passendes zu finden, aber das liegt dann an meiner Launigkeit und nicht der Komplexität der Klamottensituation. 

So viel zu den Benefits meiner Minimalismus-Interpretation. Nach ein paar Jahren zeigt sich nun aber doch auch der Haken an der Sache …

Hatte ich nicht mal …?

Ich habe über die Jahre viel ausgemistet. Sehr viel. Und 80 Prozent der Sachen gehen mir nicht ab, weil ich mich nicht mal ordentlich dran erinnern kann. Meine working memory brauche ich tatsächlich notwendigst für wichtigere Dinge. Aber an die restlichen 20 Prozent muss ich doch immer mal wieder denken. Und auch wenn ich davon nach mehrmaligem Anprobieren, Ausprobieren und Negieren wahrscheinlich immer noch gute zehn bis 15 Prozent ein weiteres Mal ausmisten würde, bereue ich es, dass ich diese Wahl nicht nochmal habe.

Vielleicht ist es tatsächlich mein inneres Nachkriegsenkelkind – “Das behalten wir mal auf, können wir ja vielleicht nochmal brauchen” –, aber ein paar Teile würde ich jetzt wirklich wieder gerne anziehen. Weil ich sie gerne mochte, und sie nur aufgrund diverser Rhetoriken a’la “was du ein Jahr nicht trägst, fliegt raus” weggegeben habe. Ohne zu beachten, dass die eigenen Vorlieben eben manchmal etwas länger als ein Jahr auf etwas keine Lust haben – was aber noch lange nicht heißt, dass ich es nie wieder tragen möchte. Tja, dumm gelaufen. 

Deshalb machen meine ausgemisteten Sachen mittlerweile etwas länger Station im Keller. Weil wir den Platz haben und ich lieber mal nach eineinhalb Jahren ein Kleid oder ein Shirt hole, dass mir doch einfach nicht aus dem Kopf will, auch wenn ich es das letzte Mal vor zwei Jahren getragen habe. Meine Bücher gebe ich ja auch nicht einfach weiter, wenn ich sie mal gelesen habe. Also einige wenige schon. Aber da bin ich mir dann immer ganz sicher. So sicher möchte ich mich auch mit anderen Dingen fühlen.

drei bücherregale voller bücher und pflanzen
So etwas wie “zu viele Bücher” gibt es einfach nicht …

Das gefällt mir irgendwie echt gut … 

Trotz Kurzsichtigkeit sehe ich wie viele andere auch immer wieder Dinge, die mir gut gefallen, mich interessieren, mich reizen. Und damit meine ich nicht nur Bücher. Ob Schuhe, Tasche, Rucksack, Klamotte – alles Sachen, die auch Spaß machen. Mir zumindest. Was ich mir in der Hochphase meines Simplify-Minimalismus nicht recht eingestehen wollte. Vielleicht war es mir aber auch einfach noch nicht so klar. 

Unabhängig von diversen minimalistischen Bestrebungen war ich nie DIE Trendgöttin schlechthin. Dafür war ich meist etwas zu sparsam (sprich: geizig) – Trendteile kosten und müssen in der Regel bereits in der nächsten Saison ersetzt werden, weil Trend eben. Und auch etwas zu gemütlich – wenn ich mal was gefunden habe, in dem ich mich wohlfühle, dann bin ich da schon mal gerne länger zu Hause, trendtechnisch gesehen.  

Außerdem bin ich mittlerweile alt genug, dass ich manche Dinge schon in ihrer ersten oder zweiten Runde miterleben durfte. Da ist die Gefahr der FOMO teils überschaubar. Schließlich machen mich Schulterpolster wie zu Muttis Zeiten auch 25 Jahre später nicht hübscher oder glücklicher; Acid Wash und Batikmotive auch nicht.

Long story short: ich finde Mode trotzdem ganz spaßig. Ich mag es jetzt nicht kunterbunt, übertrendig und schweineteuer betreiben (Preloved sei Dank), aber ich kann mich in so vielen Formen und Variationen immer wieder neu finden und wohlfühlen, dass ich darauf nicht verzichten will. Klar ist die Klamottenwahl leichter, wenn es nur eine und nicht fünf blaue Jeans gibt. Und nur ein Shirt, ein Pulli usw. Aber es ist mir eben auch einfach zu langweilig. Ich mag die Abwechslung – schließlich lebe ich nur einmal, und das darf auch mal unsimplified Spaß machen 🙂

Minimalistisch? Nachhaltig? Beides? Was jetzt …?

Neben meinem Interesse an Minimialismus und Ausmisten bemühe ich mich im Kleinen ja auch immer wieder um die Planetenrettung. Dass ich das als Einzelperson nur äußerst marginal in der Hand habe, ist Fluch und Segen zugleich – welch Verantwortung! Trotzdem versuche ich mein Bestes, wie viele von uns, mal mehr und mal weniger erfolgreich. 

Im unminimalistischen Spiel mit Mode, Accessoires und co. heißt das für mich, dass ich hauptsächlich secondhand shoppe. Durchaus auch online – und damit nicht rundum nachhaltig – aber für mich ist es in diesem Zusammenhang wichtiger, dass ich ein klitzekleinwenig mithelfe, Kleidermüllberge zu verhindern. Da gehe ich einen Kompromiss ein, mit dem ich am besten leben kann: Ich kaufe gebraucht, also wird etwas nicht weggeworfen. Ich stärke Geschäfte und Plattformen, die diesen Kreislauf fördern. Und für mich selbst werden teils Produkte von besserer Qualität erschwinglicher, weil eben secondhand. An dieser Stelle nicht zu verwechseln mit vintage, das auch ganz wunderbar, allerdings oft ein wenig teurer und gestylter ist. Aber das ist eine andere Story. Schulterpolster, Acid Wash und so. 

Und bevor ich hier einen Hauch von Heldin des Gebrauchtwarenshoppings annehme: Das zuvor bemühte “hauptsächlich” heißt genau das und nicht “immer”. Manchmal sind die Dinge nämlich auch neu, aus verschiedenen Gründen. Dann bemühe ich mich vor allem um Langlebigkeit, sprich, ich kaufe Dinge neu, die ich viele Jahre tragen will. Basicshirts etwa, aber auch Unterwäsche (obviously) – und auch anderes. Wenn es zu allem anderen passt, darf es einziehen. 

Gelebter Minimalismus: Statt shoppen mal Bäume in der Herbstsonne fotografiert
Einfach mal ganz mindfully in die Herbstsonne blicken – Klischee ahoi?

Opium für den Westen?

Abseits von Kunstrichtungen und buddhistischen Gedanken ist Minimalismus im Sinne von The Minimalists & Co. eine recht westliche bzw. wohlhabende Angelegenheit. Ein Mensch muss erst einmal so viel besitzen können, dass sie sich davon quasi erschlagen fühlt – ein Problem, dass in vielen ärmeren Ländern der Welt abseits Europa, USA, Kanada, Japan und Südkorea womöglich gerne mal erlebt werden würde. Mir hier in hunderten Zeichen Gedanken darüber machen zu können, wie viele Bücher, Schuhe, Hosen oder Rucksäcke ich laut Marie Kondo und The Minimalists eigentlich besitzen darf, ist also an sich ein Privileg. Ich bemühe mich, das nicht zu vergessen. Hilft niemandem, ändert nichts an der Gesamtsituation, bringt aber etwas mehr Bodenhaftung, wenn es zu pseudophilosophisch wird.  

Die vielgepriesene Besinnung aufs Wesentliche, die Minimalismus fördern soll, bringt übrigens nicht selten ein wenig Mindfulness und Meditationsempfehlungen mit sich. Macht Sinn. Wer gut drauf ist, hinterfragt selten den eigenen Lebensstil. Auch mir hilft Meditation, meine ADHS-Fuzzybrain zu beruhigen. Innere Ordnung und so, hatten wir schon. Der Rundum-Fokus auf die eigenen inneren und äußeren Befindlichkeiten birgt allerdings auch die Gefahr, ein wenig zu entrücken, poetisch gesprochen.

Wir helfen uns selbst, um mit Situationen umgehen zu können, anstatt die Situationen selbst, die Selbsthilfe überhaupt erst nötig machen, zu ändern. Klingt kompliziert, ist es auch – ein Artikel des Guardian mit dem Titel “The Mindfulness Conspiracy” hat mich in diesem Kontext zum Nachdenken gebracht. Ich bin für mich selbst in diesem Zusammenhang noch nicht klüger geworden, wollte diesen Punkt aber nicht unerwähnt lassen. Schließlich darf eine kritische Betrachtung des Themas Wohlfühl-Minimalismus auch mal über meine eigene Nasenspitze hinausgehen. Wenn auch nur in zwei kurzen Absätzen …

Bücher gehen immer

Weil ich es – soweit ich es sehen kann – übrigens noch nie so deutlich klargestellt habe, sei gesagt: Minimalismus im Bücherregal war NIE Thema bei mir. Ich räume zwar immer mal wieder um und miste im Zuge dessen auch mal aus, aber das meint dann ein klitzekleines Bücherstäplchen, das weiterziehen darf. Bücher horten ist oft weitaus angesehener – nicht zuletzt im Kopf einer Literaturwissenschaftlerin – als Gewissenskonflikte über alte Jeans, die vielleicht doch noch ein weiteres Jährchen im Keller hätten bleiben sollen. Was mit ein Grund sein mag, warum ich mich zwar zwar seit Jahren mit einer Spielart von Simplify-Minimalismus auseinandergesetze, diese in einem anderen, mir sehr wichtigen Bereich, jedoch überhaupt nicht anwende. 

Die eigenen Vorurteile sind doch immer wieder die Schönsten …

Danke fürs Vorbeischauen und Lesen, alles Gute 🙂