Ich bin bei Literatur, die auch nur ansatzweise in die klassische Selbsthilfe/Improve-yourself-Richtung gehen könnte, immer ein wenig vorsichtig: Vieles ist mir persönlich zu spirituell, esoterisch oder dogmatisch, sodass ich es, selbst wenn die Idee an sich interessant erscheint, schlicht kaum ernst nehmen und noch weniger umsetzen kann (oder will). Zudem bin ich zwar immer neugierig und habe Spaß daran, neue Dinge zu lernen, aber ich schätze die Freiheit, für mich selbst zu entdecken und auszuprobieren, was mir gefällt und was nicht. Finde ich also nur dann “In 30 Tagen zu höheren Seelensphären”, wenn ich täglich drei Stunden Kopfstand mache, dabei ein fünfstrophiges Mantra singe und im Anschluss noch ein Stündchen mit Apfelessig gurgle, damit es mir den Nebel aus den Chakren weht, dann hat meine Seele leider Pech und muss ihren schnöden Alltag in der Ebene weiterfristen. Da bin ich stur.
Fernab von jeglicher Dogmatik und Besserwisserei bietet Lina Jachmann aber einen offenen Zugang zum übergeordneten Konzept des Minimalismus und seinen unterschiedlichen Spielarten. Und womöglich genau wegen dieser Offenheit, die sich für mich auch in einer Leichtigkeit von Text und Layout wiederfindet, habe ich mich in dieses Buch verliebt, das mir in erster Linie eigentlich nur eine Orientierungshilfe sein sollte bei einem Thema, mit dem ich schon lange geliebäugelt habe, für das mir aber immer der Name gefehlt hat und dessen Facetten ich ein wenig genauer kennenlernen wollte. Das ist auch geglückt. Das und noch viel mehr.
Neuen Welten erkunden
Bei ihrer Einführung in das, was gemeinhin als minimalistischer Lebensstil in den unterschiedlichesten Varianten gesehen werden kann, geht Jachmann systematisch vor und stellt in verschiedenen Abschnitten das Verhältnis von Minimalismus und Wohnen, Mode, Körper und Lifestyle vor, die wiederum in kleinere Kapitel unterteilt sind. Dabei erinnert die graphische Gestaltung des Buches durchaus an ein stilvoll und eben minimalistisch gestaltetes Lifestylemagazin im gehobenen Preissektor, was ansprechend und auch vertraut wirkt und zu dieser besonderen Leichtigkeit des Buches beiträgt. Allerdings war das für mich auch einer der Hauptgründe, warum ich erst einmal wochenlang um das Buch rumgeschlichen bin, bevor ich es dann doch gekauft habe. Ich kaufe Bücher meist gebraucht, in der Regel aus finanziellen Gründen, aber durchaus auch, weil ein tolles Buch nicht unbedingt auch ein neu gedrucktes Buch sein muss – gebraucht ist genauso gut. Die Frage, ob ich aus purer Freude an der Neugier über 20 Euro für ein neues Buch ausgeben soll, das mich dann womöglich mehr an die Lifestyle-Beilage der Glamour erinnert, als mich wirklich glücklich zu machen, hat mich tatsächlich sehr beschäftigt; schlussendlich hat die Neugier gesiegt und ich wurde nicht enttäuscht.
Dabei ist natürlich nicht alles gleich interessant, das wäre auch unmöglich. Mein seit Jahren schwelendes Bedürfnis, beständig auszusortieren, auszuräumen und weiter(weg)zugeben wurde in dem Abschnitt zum Thema “Minimalismus & Wohnen” bestärkt, wenngleich eine Reduktion meiner Besitztümer auf “nur” 50 Teile pure Utopie ist, egal wie sehr ich ausgeräumte und aufgeräumte Flächen, Plätze und Ecken genieße. Bei 50 Teilen habe ich nur Bücher und nix zum Anziehen dabei, also nicht unbedingt sehr allgemeinverträglich (und ich stehe nicht gerne im Mittelpunkt, egal wieso). Dabei hat mir Lina Jachmanns Buch nicht nur Ideen und Inspiration geschenkt, sondern so manchem Gedanken auch endlich einen Namen und einen Platz gegeben und mich erkennen lassen, dass diese Sehnsucht nach dem Simplen, Einfachen, Überschaubaren kein Zeichen meiner individuellen psychischen Unzulänglichkeiten ist, sondern etwas, das viele verschiedenen Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen kennen, nachfühlen können und manchmal sogar leben.
Keine Modeopfer mehr
Der Abschnitt “Minimalismus & Mode” wiederum hat mir in mehrfacher Hinsicht die Augen geöffnet. Ich bin keine besondere Modemaus, weil ich für Trends oft zu geizig und desinteressiert bin; “geizig” meint hier auch nicht zwingend, dass Mode immer billig sein muss, sondern vielmehr, dass ich lieber zeitlose Sachen kaufe und länger was davon habe, als fashionmäßig immer an vorderster Front mitzumischen und dann nach einer Saison auf Hochwasserhosen in mäßig vorteilhaftem Schnitt sitzenzubleiben, die ich nicht mehr tragen mag, weil Trend vorbei oder ähnliches (dabei geht es jetzt aber bitte nur um mich, grundsätzlich machen das alle so, wie es ihnen Spaß macht, nur im Idealfall eben mit mehr Weitblick als grad mal bis zu nächsten Influencer-Modestrecke). Jachmanns Ausführungen zu Fair Fashion, Capsule Wardrobe, Secondhand und zum Projekt 333 (um nur einiges zu nennen) haben mir verdeutlicht, dass ich beim Kauf meiner Klamotten in Zukunft gerne auf mehr achten möchte als nur auf den Preis – auch wenn der natürlich trotzdem wichtig bleibt und ein überschaubares Einkommen einem dann vielleicht auch zeigen kann, was man nicht alles mit dem machen kann, was man schon zu Hause hat. Ich nähe zum Beispiel höchst dilettantisch, aber trotzdem gerne selbst und habe so auch immer wieder Ideen, wie ich aus etwas Altem, das ich nicht mehr gerne trage, was Neues machen kann (vielleicht besser: könnte, denn zwischen meinen Nähideen und meinen Nähkompetenzen liegen doch schon auch mal Welten …). Um die Zahlen jener Menschen, die für unsere Trendkultur den Preis zahlen und so zu wortwörtlichen “Modeopfern” werden, zunehmend zu verringern, bietet Einfach leben zahlreiche Anregungen und auch praktische Tipps mit Blog- und Onlineshopadressen für faire und nachhaltige Mode – ein erster Anreiz also, um ohne großen Aufwand mal hineinschnuppern zu können.
Ein Rundumpaket an neuem Wissen
Das auch ein Lieblingsbuch nicht immer nur den eigenen Interessen entspricht, tut der Begeisterung keinen Abbruch. Da ich mich noch nie wirklich für Kosmetik oder auch Kochen interessiert habe, diese Themenbereiche aber durchaus auch auf äußerst interessante und vielseitige Art und Weise mit Minimalismus verknüpft werden können, finde ich auch bei Jachmann Abschnitte, die ich mehr überfliege denn aufmerksam lese. Das macht aber auch nichts, denn schließlich weiß ich nun, wo sich die optimalen Informationen finden, sollte mich das Thema plötzlich doch interessieren, und schon zu Schulzeiten hieß es doch immer so schön: “Bildung heißt, wissen, wo was steht!” (oder so ähnlich).
Die Tipps bezüglich der “Pflanzen für Minimalisten” fand ich interessant und wir haben nun auch tatsächlich einen Bogenhanf im Schlafzimmer stehen, die Anmerkung, dass die NASA eine Pflanze pro zehn Quadratmeter empfiehlt, ergibt für mich dann allerdings ein grünes Zuviel, das mit meiner Freude an der freien Fläche kollidiert. Zudem leben wir seit zwei Jahren in einer Wohnung mit Fußbodenheizung, und ich habe noch nicht die optimale Überwinterungsstrategie für unsere grünen Freunde gefunden (sprich: wildes Waldsterben im übertragenen Sinne …). Und auch Bambuszahnbürsten und wiederverwendbare Abschminkpads haben inzwischen den Weg in unser Badezimmer gefunden. Diese Dinge hätte ich vielleicht früher oder später mal durch Zufall entdeckt, aber Einfach leben hat den Entdeckungsprozess definitv vereinfacht.
Minimalismus = Öko = Was denn noch alles?
Meine ursprüngliche Sehnsucht nach Weniger liegt vor allem in meiner mentalen und psychischen Vorgeschichte begründet. Wenn Angst, Panik und Depression die eigene Welt erst verkleinern, um sie dann neu geordnet wieder an anderen Ecken zu öffnen, dann ist der Blick für die eigenen Bedürfnisse deutlich geschärfter. Dementsprechend habe ich nach einigen Jahren, in denen ich an vielem aus purer Verlustangst festgehalten habe, meinem noch dringenderen Bedürfnis nach Klarheit, Struktur und Übersicht nachgegeben und sortiere seit fast ebenso vielen Jahren umfassend aus. Wie schon zuvor beschrieben, habe ich vor allem durch Lina Jachmanns Buch nun Namen für so manches, was ich mache, machen möchte, oder mich einfach auch interessiert. Dass Minimalismus selbst abgesehen von den Designströmungen in Kunst und Architektur noch so viel mehr sein kann, wenn man es denn herausfinden möchte, hat mich überrascht und in machen Zusammenhängen auch überfordert. Das hängt aber mehr mit meiner “Alles oder nichts”-Haltung zusammen und wird mal an anderer Stelle genauer beschrieben – schließlich kann die Autorin nichts dafür, dass ich das mit Katharsis, Befreiung und Neuanfang manchmal etwas gar zu wörtlich meine …
Wie “öko” ich und wir noch werden, steht in den Sternen. Für ein veganes Dasein reicht es schon mal nicht, denn abgesehen von meinem absoluten Desinteresse an Essen und Kochen gibt es leider kein Allzweckmittel zu Planetenrettung, auch nicht Veganismus. Eine Wurmbox zum Kompostieren unserer Bioabfälle im Wohnzimmer kann ich mir leider auch nicht vorstellen, schlicht auch, weil ich nicht noch mehr Zeugs rumstehen haben möchte. Und meine Zahnpasta mache ich lieber auch nicht selbst, diverse Horrorstories auf Instagram von abgeschmirgeltem Zahnschmelz und ähnliches zeigen mir die Grenzen meiner Wissbegier klar auf (wo ich doch – wie könnte es anders sein – Angst vorm Zahnarzt habe).
Als denn: wer Tipps sucht, wie man ein Schäufelchen zu einem für Mensch, Tier und Planeten verträglicheren Leben beitragen kann, wird bei Einfach leben von Lina Jachmann fündig werden. Dabei bleibt es allen selbst überlassen, was man mitnimmt, weiterdenkt oder umsetzt. Diese Offenheit des Buches selbst spiegelt die Offenheit eines Konzeptes wieder, welches in erster Linie mal ein Leben leichter machen soll – für einen selbst und alle(s) um eine herum …